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Schulexit

Nach viereinhalb Jahren verlasse ich den (immer noch) fremden Planeten Schule wieder und kehre zurück in meinen alten Arbeitsbereich als Entwickler im Umfeld von Bibliothek, Open Science und Open Source. Am 1.7. fange ich bei der TIB in Hannover an und arbeite dort im Lab Nicht-Textuelle Materialien.

Ich freue mich sehr darauf, trotzdem war die Entscheidung, das Lehrerdasein wieder aufzugeben, wahrlich nicht einfach. Vier Jahre lang hab’ ich mich mit einer gigantischen Ambivalenz von widerstreitenden Interessen sowie widersprüchlichen Aspekten des Lehrerjobs rumgeschlagen. Diese Ambivalenz werde ich wahrscheinlich nie wieder los werden, aber mit dem Wechsel entfällt immerhin der permanente Druck. Ich habe, als die Entscheidung anstand, mir mal eine kurze Pro- und Contraliste erstellt, von denen ich hier einige Aspekte gerne teilen möchte. Vieles ist fragmentarisch, aber mehr und systematischer zu schreiben schaffe ich gerade nicht.

Die positiven Seiten, für mich ganz persönlich, machen den Anfang. Sie betreffen im Wesentlichen den Umgang mit Menschen, nicht Schule als Institution. Die negativen Seiten überwiegen und betreffen Schule als System.

Pro Schule

Die Schüler:innen

Der allerwichtigste Punkt pro Schule und ein wesentlicher Grund, weswegen ich Lehrer werden wollte: Nach wie vor macht es Spaß, mit den Kindern zu arbeiten und umzugehen. Ja, es ist höllisch anstrengend, erst recht in einer Brennpunktschule, aber eben auch erfüllend und, so hab ich das empfunden, persönlichkeitsbildend. Ich habe mit und durch die Schüler:innen unglaublich viel gelernt, bin super mit ihnen klarkommen, auch weil ich immer versucht habe, auf Augenhöhe mit ihnen zu arbeiten und vielleicht auch deshalb, weil ich selbst aus einem nichtakademischen Handwerker-, Arbeiter- und Landmilieu stamme. Ich bin sehr dankbar für die Erfahrung. Das hat mich auch ein bisschen demütig gemacht. Meine Schule ist das, was man gemeinhin als Brennpunktschule bezeichnet, obwohl wir lieber von Schule mit besonderen Herausforderungen sprechen. In meiner 5. Klasse haben alle Kinder einen Migrationshintergrund, wir haben Schüler:innen aus ca. 80 Nationen, ca. 2/3 der Familien bekommen staatliche Unterstützung. Viele Kinder in der Schule haben heftige Flucht- und Kriegserfahrungen, die ukrainischen Flüchtlinge kommen gerade hinzu. Viele haben extreme Familienerfahrungen, Verhaltensauffälligkeiten, sprachliche und finanzielle Probleme. Und trotzdem schlägt einem von diesen Kindern eine Fröhlichkeit, Lebensenergie und auch jede Menge Freundlichkeit entgegen, dass es mir manchmal wirklich die Tränen in die Augen treibt. Eine Wahnsinnserfahrung, der ich nur mit großer Demut und Bewunderung gegenüber stehen kann. Dementsprechend ist der Abschied von diesen Kindern, speziell in meiner 5. Klasse, eine echt harte Angelegenheit und der Punkt, der mich lange von einem Ausstieg abgehalten hat.

Sinn und Selbstwirksamkeit

Das hängt mit dem oben Gesagten zusammen. Bei solchen Schüler:innen weißt du eigentlich jeden Tag, wofür du so hart arbeitest, und natürlich hast du das Gefühl etwas Sinnhaftes zu tun und eine Arbeit mit Bedeutung zu haben: für die Kinder, für die Schule. Ob dem wirklich so ist, oder ob es nur eine Illusion ist, die einem hilft, die Arbeitsbedinungen zu ertragen und zu akzeptieren, sei mal dahingestellt. Was auf jeden Fall bleibt ist ein Gefühl von Bedeutung und Selbstwirksamkeit.

Kolleg:innen

Nachdem ich elf Jahre größtenteils im Homeoffice gearbeitet hatte, war die tägliche Begegnung und Zusammenarbeit nicht nur mit SuS sondern auch Kolleg:innen einen ziemliche Umstellung, die ich aber natürlich auch ein Stück weit gesucht hatte. Und es hat sich gelohnt: ich habe viele tolle Menschen kennengelernt, die wie ich Schule entwickeln wollen, die brennen für die Arbeit und sich täglich extrem reinhängen. Und klar: es gibt auch die Kolleg:innen, die aus meiner Sicht veraltete pädagogische Methoden und Ansätze vertreten, schlicht komplett anders ticken als ich oder sich nicht so hart engagieren. Aber ich wage zu behaupten, dass ich auch bei denen gelernt habe, sie persönlich wertzuschätzen und trotz teils extremer Differenzen irgendwie konstruktiv zusammenzuarbeiten. Noch so eine positive Erfahrung. Im neuen Job werde ich wieder im Homeoffice arbeiten und wollte das aus verschiedenen Gründen auch unbedingt. Aber der Umgang mit Menschen, den SuS besonders, aber auch den Kolleg:innen, wird mir vermutlich ganz schnell fehlen.

Schulveränderung

Ganz wichtiger Punkt, auch wenn er nicht eindeutig als positiv gewertet werden kann (s.u.). Aber mein Wille zur Veränderung des maroden, auf gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Bedingungen des 19. Jahrhunderts basierenden Schulsystems war sehr stark. Ich habe mich da sehr engagiert und brenne irgendwie immer noch dafür. Gleichzeitig ist dies auch einer der Aspekte, die die größte Selbstzerstörungsgefahr bergen, denn (siehe unten): das System hat einen starken Selbsterhaltungstrieb, der umso stärker zu werden scheint, je mehr seine Widersprüche und Probleme zu Tage treten. Womit wir dann auch schon zu den Contra-Schule Argumenten kommen.

Contra Schule

Arbeitsbedingungen und Intensität

Schule ist anstrengend, das war klar. Aber wenn man den Job ernstnimmt, wirklich ernstnimmt, seiner Verantwortung gerecht werden und auch noch intensiv Schulveränderung umsetzen will, dann ist er seriös eigentlich mit einer Vollzeitstelle nicht zu schaffen. Es gab in den letzten vier Jahren während der Schulzeit so gut wie kein Wochenende, an dem ich nicht gearbeitet habe. Es gab auch kaum einen Abend, an dem nicht gearbeitet habe. Das gleichen dann auch die Ferien nicht mehr aus. Gleichzeitig ist so ein Arbeitstag in der und mit der Schule extrem intensiv. Es gibt eigentlich keine ruhige Minute, keinen Moment der Entspannung und des Kopfabschaltens. Überhaupt, das Kopfabschalten: geht nicht, zumindest hab ich es noch nicht gelernt. Schüler:innen, Unterricht, Kolleg:innen, Anforderungen, ToDos und der ständige Gedanke “Eigentlich muss das alles anders sein” lassen einen auch nach Feierabend nicht los.

Zu dieser Arbeitsverdichtung und Intensität hinzu kommt die mentale und emotionale Belastung. Ein ehemaliger Kollege aus dem Bibliotheksbereich hat mal zu mir gesagt, er wüsste als einigermaßen emphatischer Mensch gar nicht, wie er so viele unterschiedliche Menschen verarbeiten sollte. Das ist tatsächlich so, erst recht in einer Schule wie meiner. Die o.g. Geschichten der Kinder lassen sich ja abends nicht einfach abschütteln. Man denkt drüber nach, man fühlt mit, man versucht das Kind zu verstehen. Und du hast da nicht nur eins von, du hast mindestens 60, und zwar täglich. Mit der Zeit lernt man zumindest ein bisschen professionell emotionale Distanz dazu aufzubauen, aber im Kopf, da bleibt es ständig.

Nun könnte man sagen, musst du dich halt besser organisieren und effizienter, professioneller werden. Bin ich geworden, tatsächlich. Obwohl ich da nach 30 Jahren Berufserfahrung, einem Doktortitel, als autodidaktischer Programmierer und mit drei Kindern neben den Vollzeitstellen eigentlich auch vorher schon nicht soooo schlecht war. Aber bessere Effizienz führt eben am Ende nicht zwangsläufig zu weniger Arbeitszeit, sondern eher zu mehr Aufgaben.

Nun könnte man außerdem sagen, ja nun, mach’ halt ein bisschen weniger und beschränke dich auf’s Wesentliche, das Unterrichten. Den Vorwurf kann ich mir machen, andererseits ist der Job für mich so nicht vorstellbar. Für mich war und ist ein wesentlicher Bestandteil der Berufsauffassung das Schuleverändern und -öffnen. Dementsprechend hab ich mich engagiert. Ich war Mitglied der für Schulentwicklung zuständigen Steuergruppe, habe Projekte mit außerschulischen Partnern organisiert, hab mich für OERengagiert. In der Schule war ich Mitglied der Schulkonferenz und Fachsprecher, außerdem IT-Koordinator, Homepage Verantwortlicher, Mitglied und Organisator der Arbeitsgruppe Digitales, und gelegentlich hab ich auch ein bisschen Werbung für die Schule und die Notwendigkeit von radikaler Schulveränderung gemacht. Für einige von diesen Aktivitäten habe ich Stundenentlastung bekommen, aber es waren trotzdem zuviele Baustellen. Als die Entscheidung anstand, ob ich Schule wieder verlasse, war es schon eine ernsthafte Überlegung, zu versuchen, dieses über den Lehrer-Kernbereich hinausgehende Engagement einzuschränken und ganz zu lassen. Wenn ich in Schule geblieben wäre, hätte ich es machen müssen, sonst hätte ich, aber auch meine Familie das irgendwann nicht mehr ausgehalten. Zwei Gründe haben für mich dagegen gesprochen. Erstens war und ist (wie oben bereits gesagt) Schulveränderung eine wesentliche Motivation meiner Entscheidung für das Lehrersein gewesen. Diese Säule hätte ich nicht einfach kappen können, ohne unzufrieden zu werden. Zweitens wäre es im Vergleich zu anderen Jobs immer noch ein extrem intensiver Job geblieben (s.o.), wirkliche Entlastung und halbwegs normale Arbeitszeiten und -bedingungen wären also so oder so nicht zu erwarten gewesen.

An dieser Stelle kommt dann das Argument mit den Ferien, der Bezahlung und der tollen Pension, die doch alle Lehrer bekommen, oder? Nein.

Zwölf Wochen Ferien hört sich toll an, aber erstens ist das nicht zwangsläufig Freizeit, sondern lediglich unterrichtsfreie Zeit. Ich habe in allen Ferien gearbeitet, nach- und vorbereitet, und ich kenne keine Kolleg:innen, bei denen das anders ist. Zweitens ist diese unterrichtsfreie Zeit angesichts der Belastungen mehr als nötig. Punkt.

Die Bezahlung, besser das Nettogehalt, ist für Beamte tatsächlich nicht schlecht (Deutschlands Lehrer:innen zählen weltweit zu den am besten bezahltesten), aber für mich als angestellter Lehrer war das Gehalt signifikant schlechter, und auch weit niedriger als sowohl in meinem vorherigen, als auch meinem künftigen Job im öffentlichen Dienst. TV-L 13 ist ja OK, aber dass in Bremen grundsätzlich für neu angestellte Lehrer maximal Stufe 2 oder 3 gezahlt wird, unabhängig von der vorherigen Berufserfahrung, ist in Zeiten von Lehrer- und Fachkräftemangel eher suboptimal und zeugt von einer gewissen Ignoranz und Geringschätzung. Und Pension gibt’s natürlich auch nicht.

Schulsystem, Digitalisierung und Corona

Vermutlich ist das mein zentraler Punkt, und trotzdem schreib ich dazu womöglich am wenigsten, weil es ein so gigantisch großes Thema ist und weil viele andere und klügere Menschen dazu schon viel geschrieben und gesagt haben. Das deutsche Schulsystem, Schule als Institution, das damit verbundene Mindset (Kontrolle!) vieler Lehrer:innen sowie ein an Prüfungen, Noten und Selektion orientierter Unterricht sind nicht mehr “zeitgemäß”, sorgen für eine im weltweiten Vergleich riesengroße Chancenungleichheit und werden den Anforderungen von Wirtschaft und Gesellschaft in einer digitalisierten Welt nicht mehr gerecht. Und obwohl ich echt gerne daran mitarbeiten wollte, kann ich nicht mehr sehen, wie sich da in für mich absehbarer Zeit etwas grundlegend ändern könnte. Letztendlich ist das in Deutschland auch ein Politikum, das durch den Bildungsförderalismus zusätzlich kompliziert wird. Insofern sind die vielen Bemühungen und positiven Schulversuche (auch an meiner Schule) zwar vielleicht ein steter Tropfen, der irgendwann den Felsen des Systems aufweichen könnte. Aber mir geht das alles viel zu langsam. Wir befinden uns am Beginn einer fundamentalen und vor allem rasend schnellen Umwälzung aller wirtschaftlichen, technischen und gesellschaftlichen Strukturen unserer Systeme. Vor allem die Geschwindigkeit der Umwälzung ist es, der Schule (wie viele andere Infrastrukturen in Deutschland) nicht mehr gerecht wird. Wie wenig dieser Wandel oft in Schulen verstanden wird, hat erst neulich wieder ein typischer Beitrag in Deutschlands Lehrer:innenzeitung #1 gezeigt. Es mag sein, dass meine Ambiguitätstoleranz in dieser Hinsicht nicht besonders gut ausgeprägt ist. Aber ich bin aus anderen beruflichen Zusammenhängen gekommen, in der der Wandel erheblich schneller und positiver aufgenommen und umgesetzt wurde, und das nicht erst seit kurzem. Wir haben in der universitären Lehrerbildung in Bremen schon vor 20 Jahren mit konstruktivistischen Ansätzen, mit individualisierten, kollaborativen, kreativen, fächerübergreifenden und vor allem die Digitalisierung als grundlegend begreifenden Konzepten gearbeitet. Vor dem Hintergrund dieser beruflichen Erfahrung frustriert und besorgt es mich tatsächlich zutiefst, wie wenig davon bislang in Schule angekommen und umgesetzt ist. Meine Schule ist eine rühmliche Ausnahme, sowohl was Nutzung digitaler Medien, als auch die Unterrichtskonzepte betrifft. Aber selbstverständlich ist das auch bei uns alles noch nicht, und es ist ein täglicher Kampf, diese Konzepte nachhaltig zu implementieren und durchzusetzen.

Die Corona-Krise als extreme Disruption normalen Schulunterrichts hätte hier fundamental etwas ändern können, so zumindest meine Hoffnung (und die vieler anderer) im ersten Jahr der Pandemie. Wir mussten (konnten!) plötzlich neue Unterrichtskonzepte erarbeiten, mit Hybrid- und digitalem Lernen, mit Wechselgruppen, Individualisierung, Beratungskonzepten, neuen Wegen des Kontaktes mit SuS und neuen kollaborativen Arbeitsformen. Für kurze Zeit taten sich ungeahnte neue Räume und Erkenntnisse auf, die ohne Corona nicht denkbar gewesen wären, und die wir (und die SuS) vielfach positiv genutzt haben. Es war auch –zumindest bei uns– keineswegs grundsätzlich so, dass durch die erzwungenen Veränderungen die SuS gelitten, weniger gelernt oder schlechtere Abschlüsse gemacht hätten. In meiner 10. Abschlussklasse (nicht vergessen: Brennpunktschule) war sogar im Gegenteil signifikant auffällig, wie gut einige zuvor leistungsschwächere Schüler:innen durch das Digital-Lernen von zuhause plötzlich große Leistungssprünge nach oben zeigten, wie der Wechselunterricht uns ermöglichte, die SuS viel individueller auf die Abschlussprüfungen vorzubereiten und wie sehr die auch vorher leistungsstarken SuS die plötzliche Freiheit genossen. Natürlich hatten auch wir die Kinder, zu denen der Kontakt verloren ging, die nichts oder weniger lernten oder die zuhause schlicht gar nicht lernen konnten. Die Pauschalität aber, mit der ausschließlich diese Schüler:innen als Begründung für das absolute Primat des Präsenz-(=nicht digitalen)-Unterrichts von der Politik und konservativen Lehrerverbänden herhalten mussten, ist eine bewusste Verkürzung und Propaganda-Lüge. Der Umgang mit der Corona-Krise durch die KMK und das Ignorieren der dadurch entstandenen Chancen waren denn auch für mich der Auslöser für die Entscheidung, Schule wieder zu verlassen. An der zwanghaften Aufrechterhaltung des Status Quo des Schulsystems möchte ich momentan nicht mehr mitarbeiten.

Alte Liebe

Ein Stück weit ist meine Kündigung auch nicht zwangsläufig eine Entscheidung gegen Schule (ich kann mir sogar vorstellen, irgendwann noch mal als Lehrer zu arbeiten), sondern vielmehr eine Entscheidung für eine andere Art von Arbeit. Ich habe vorher fast 25 Jahre als Wissenschaftler und Entwickler gearbeitet, ich hänge da irgendwie auch dran. Nach wie vor sitze ich total gerne am Schreibtisch, programmiere, schreibe, entwickle, feile an Details, lerne, probiere Neues aus, vertiefe mich in Texte oder Probleme. Gerade dieses Vertiefen hat mir in der Zeit als Lehrer sehr gefehlt, einfach weil so wenig Zeit und auch Energie dafür da war. In der Schule habe ich womöglich deutlich mehr getan als vorher, dafür aber auch viel oberflächlicher, unkonzentrierter, hektischer, qualitativ schlechter. Gefehlt hat mir auch das Homeoffice und die dadurch erheblich größere zeitliche Flexibilität. Für meine familiäre Situation war das in Kombination mit der viel zu großen Arbeitsmenge auch eine erhebliche Belastung. Mein jüngster Sohn jedenfalls freut sich sehr, dass ich bald wieder meistens zuhause sein werde, wenn er aus der Schule kommt (die anderen beiden auch, aber die geben das nicht so zu ;-).

Also, bye bye fremder Planet Schule! Es war auch oft richtig schön (ich habe einer Kollegin versprochen, das zu erwähnen, und es stimmt ja auch), aber ich muss erstmal weg und ein bisschen Abstand kriegen. Ich werde mir aus der Ferne weiter ansehen, wie du dich entwickelst, und ich hoffe wirklich sehr, dass du das tust. Für die Kinder.

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