Im Zuge der Diskussionen um den Elsevier-Boykott musste ich in den
letzten Monaten immer wieder an den Revisionismusstreit in der SPD zu Beginn
des 20. Jahrhunderts denken. Das hat kurioserweise durchaus geholfen, einige
Strukturen und Denkweisen in der deutschen Open Access Szene besser zu
verstehen und einzuordnen. Dieser Beitrag versucht, das ansatzweise zu
vermitteln. Er lag seit März in meiner ‘Schublade’ (weshalb einiges vielleicht
nicht ganz aktuell erscheint). Dass ich ihn nicht fertig schrieb, hing mit den
üblichen Zeitgründen, aber auch mit einer gewissen Zögerlichkeit angesichts des
vielleicht etwas kruden Vergleichs zusammen. Dass ich ihn nun endlich mal
publiziere, liegt wiederum zum einen an einer kleinen Ermunterung durch Lambert
Heller, zum anderen an dem Bericht von Ulrich Herb zu
den Open Access Tagen 2012 in Wien, in dem er eine gewisse Selbstzufriedenheit
und Selbstreferentialität der deutschen Open Access Szene konstatiert. Was
exakt meinem Eindruck entspricht, und weswegen ich glaube, dass wir ein
bisschen mehr Streit und Provokation brauchen, um weiterzukommen.
In diesem Sinne möge man mir bitte im Folgenden den etwas gewagten und hinkenden Vergleich sowie eine eventuell etwas triviale ‘revolutionäre’ Attitüde verzeihen. Der Kern, um den es mir geht, ist die Frage, wohin und wie weit wir mit dem Thema ‘Open Access’ und dem Wandel des wissenschaftlichen Publikationswesen im digitalen Zeitalter kommen wollen. Das ist ernst gemeint.
Revisionisten und SPD
Als Eduard Bernstein 1899 sein Buch Die Voraussetzungen des Sozialismus und die Aufgaben der Sozialdemokratie veröffentlichte, war die SPD in ihrer großen Mehrheit eine revolutionäre Partei, die den Kapitalismus durch soziale und politische Revolutionen beseitigen und durch ein sozialistisches, von der Arbeiterklasse getragenes System ersetzen wollte. Bernstein selbst hatte diese Ziele noch einige Jahre zuvor im Erfurter Programm theoretisch fundiert. Jetzt aber formulierte er als einer der wichtigsten Theoretiker der Partei erstmals Thesen, die vom Ziel der Revolution abgingen. Bernsteins Analyse betrachtete den Kapitalismus als stabil, anpassungsfähig und vor allem auch als reformierbar. Daraus leitete er die Notwendigkeit und Möglichkeit von Sozialreformen ab, die allmählich die Lage der Arbeiterklasse verbessern und sie politisch und ökonomisch langfristig gleichstellen sollten.
Bernsteins Thesen stießen in der Folge auf viel Widerspruch und die Auseinandersetzung ging in die Geschichte als Revisionismusstreit ein. In diesem Streit waren die Gegner von Bernsteins’ Thesen - unter ihnen Karl Kautsky, Rosa Luxemburg sowie auch der Vorsitzende August Bebel - zunächst in der Überzahl. Die SPD änderte ihr offizielles Programm nicht. In der Realität, im politischen Alltag aber setzte sich eine reformerische Politik langsam aber sicher durch. Die SPD arbeitete zunehmend mit bürgerlichen Parteien und Milieus zusammen, wurde im Reichstag 1912 zur stärksten Partei und insgesamt zu einer wesentlichen gesellschaftlichen Kraft. Das lag auch an einer zunehmenden Integration eines Teils ihrer Protagonisten - den allmählich besser verdienenden Facharbeitern und zunehmend auch Handwerkern, Angestellten und Intellektuellen aus liberalen (Klein-)Bürgermilieus - , die zum einen durchaus gewillt waren, sich bürgerlichen Lebensverhältnissen anzunähern und zum anderen sich langsam gesellschaftliche Teilhabe erkämpften. Wie weit diese Integration bereits fortgeschritten und wie weit damit die SPD auch bereits eine systemstabilisierende Kraft geworden war, zeigte der Beginn des 1. Weltkrieges und die Zustimmung zu den Kriegskrediten. 1918/19 war es schließlich die SPD, die die sozialistische Revolution verhinderte und in der Folgezeit zu einer wesentlichen Trägerin und Verteidigerin der bürgerlichen Weimarer Republik wurde. Als eine solche, letztlich revisionistische Partei im Sinne Bernsteins, hat sie unbestritten große historische Verdienste, auch nach 1945 in der Bundesrepublik. Entscheidend für unser Thema ist etwas anderes: Ihr Wille zur Teilhabe an bürgerlicher Gesellschaft und kapitalistischem Wirtschaftssystem hat eben auch in historisch entscheidenden Momenten zum Zögern und zu Stabilisierung und Restauration des Systems beigetragen. Und damit kommen wir zum Thema Open Access.
Revisionismus in der Open Access Bewegung
Ausgangspunkt ist meine Verwunderung über die Stille im Wald der deutschen Bibliotheken im Bezug auf den Elsevier-Boykott. Etwas unreflektiert und vielleicht naiv war ich bis dato davon ausgegangen, dass wir alle doch für die Durchsetzung von Open Access kämpfen und deshalb hocherfreut über den Boykott, letztlich ein Aufstand der WissenschaftlerInnen ‘von unten’, sein müssten. Falsch gedacht. Die Reaktionen waren sehr verhalten. Nur wenige BibliothekarInnen (die üblichen Verdächtigen) beteiligten sich überhaupt an der Debatte, geschweige denn am Boykott. Öffentliche Stellungnahmen von Bibliotheken waren nur sehr wenig zu finden. Das verwundert, auch wegen der auch in Deutschland doch recht großen medialen Aufmerksamkeit für das Thema. Es verwundert auch deshalb, weil das Thema Open Access sich in den letzten zehn Jahren in der Bibliothekenszene sehr wohl etabliert hat und auch aktiv gefördert wird durch Geldgeber und anhängende Institutionen. Aber auch die Protagonisten dieses langsamen Wandels schweigen größtenteils oder äußern sich sogar skeptisch.
Warum diese Zurückhaltung? Wir predigen seit Jahren die Vorzüge und Notwendigkeit von Open Access. Wir arbeiten tagtäglich hart daran, die Infrastruktur dafür aufzubauen. Wir beklagen uns, dass wir damit bei den WissenschaftlerInnen nur sehr langsam durchdringen, dass es uns nur unzureichend gelingt, sie zu überzeugen. Und dann wird (endlich!) eine sehr große Zahl von WissenschaftlerInnen aus aller Welt aktiv und erklärt, nicht mehr für Elsevier Journals schreiben oder reviewen zu wollen, weil sie Geschäftsmodell und Preise des Verlages für ausbeuterisch halten, erzeugt damit neuen Wind für Open Access, der es in die Medien, Politik und Staatsapparate (UK, EU) schafft. Und wir? Stehen daneben und schauen uns das Ganze mäßig interessiert und mit maximal skeptischer Neugierde an?
Einen Grund findet mensch - ähnlich wie bei der SPD vor 1914 - in der Akzeptanz und Integration von Open Access. Wir haben seit der Berliner Erklärung von 2003 – quasi unser Erfurter Programm – ja schließlich vieles erreicht. Kann man ja mal sagen. Aber offenbar werden wir da nun auch etwas… bequem. Und wir werden das Opfer unseres eigenen Erfolges. Die meisten deutschen Bibliotheken und OA-Protagonisten haben es sich in ihrer kleinen Nische gemütlich gemacht. Im Wesentlichen bemüht, das wenige bisher Erreichte zu erhalten, streben sie lediglich danach, auf Grundlage der Gesetze des Marktes ihren Anteil daran ein wenig auszubauen. Mit den Verlagen wird auf vielen Ebenen - auch im Open Access Bereich - fröhlich kooperiert und man ist dabei bemüht, sich bloß nicht irgendwie wehzutun. Ist ja auch ganz schön, mit den Mächtigen mal an einem Tisch sitzen. Die guten Beziehungen werden gepflegt durch ein wenig(?) Sponsoring, bspw. des Bibliothekartages oder von irgendwelchen Preisen.
Polemisch und zugespitzt: die deutsche OA-Bewegung ist im Wesentlichen zu einer Revisionisten-Vereinigung geworden, die dem Gegner (und das sind die Wissenschafts-Verlage) nicht wehtun will. Und damit womöglich das alte, überkommene und lediglich privaten Profitinteressen dienende Publikationssystem, das sie angetreten war, zu überwinden, weiter stützt.
Was tun?
Noch vor einem Jahr hätte mensch im revisionistischen Sinne argumentieren können, nun ja, das ist halt ein sehr langwieriger Prozess und außerdem wollen die WissenschaftlerInnen (die Arbeiter) ja eh nicht mitmachen. Das hat sich ausgehend vom Elsevier-Boykott nun dieses Jahr allerdings grundlegend geändert. Der Boykott hat deutlich gemacht, dass die Unzufriedenheit in der Wissenschaftscommunity sehr groß ist. Er hat deutlich gemacht, dass WissenschaftlerInnen durchaus bereit zu Änderungen sind. Hinzu kommt eine zunehmende Einsicht in den Änderungsbedarf auf politischer Ebene. Open Access Mandate werden nahezu überall diskutiert (nun gut, in Deutschland nicht so) und sind im Laufe des Jahres in diversen Ländern (z.B. Großbritannien) realisiert worden. Das heißt, wir haben tatsächlich eine historische Situation. Handeln wir? Stellen wir uns auf die richtige Seite? Oder versuchen wir, den (reformierten) Status Quo zu erhalten?
“Auf die richtige Seite stellen” impliziert den politischen Charakter dieser Frage, der mir persönlich in der deutschen Open Access Szene manchmal auch zu kurz kommt. Letztendlich handelt es sich doch bei der Frage nach der Gestaltung wissenschaftlicher Kommunikation für die Welt der Wissenschaft und letztlich auch gesamtgesellschaftlich um eine grundlegende und für die Zukunft entscheidende. Es handelt sich also um ein Politikum, das nicht nur auf den Ebenen von Wissenschaft, Bibliotheken und Markt verhandelt werden kann, sondern aufgrund der gesamtgesellschaftlichen Bedeutung und aufgrund des Zusammenhangs mit der generellen Frage nach Informationsverbreitung und -eigentum im digitalen Zeitalter sich auch politisch entscheiden wird. Den Verlagen ist das sehr klar, wie man bspw. am Engagement von Elsevier beim RWA deutlich sehen konnte. Wir werden deshalb dringend dafür sorgen müssen, eine politisch starke bzw. stärkere Gegen-Lobby aufzubauen, wie auch immer die aussehen sollte. Mag sein, dass auf der Ebene von Helmholtz, Leibniz, DFG, Fraunhofer etc. da eine Menge getan wird. Aber reicht diese klassisch-revisionistische Methode in diesem Fall? Müssten die Interessensgegensätze zwischen Verlagen einerseits und Wissenschaft und Bibliotheken andererseits nicht auch mal deutlich und öffentlich benannt werden?
Es geht dabei gar nicht so sehr darum, den Verlagen ihre
selbstverständlich extrem profitorientierte Preisgestaltung vorzuwerfen.
Das würde lediglich dann Sinn machen, wenn sie ein alternativloses Produkt
verkaufen würden. Nein, es geht darum, deutlich zu machen, dass sie
angesichts der technologischen Entwicklung obsolet geworden sind.
Es sind wir - die Bibliotheken -, die in den letzten Jahren mit dem Aufbau der technischen Voraussetzungen für ‘real Open Access’ und Open Science begonnen haben. Wir haben Repositories, Open Access E-Journals und natürlich jede Menge bibliographisches Knowhow. Wir haben begonnen mit der Schaffung einer semantischen Verknüpfung unserer Daten und Inhalte (Linked Open Data). Unbestreitbare Fortschritte, für Wissenschaft und Gesellschaft, deren Träger nahezu ausschließlich die Bibliotheken sind. Verlage wie Elsevier sind an diesem Fortschritt weitgehend nicht beteiligt, sondern stellen sich ihm bewusst in den Weg. Für uns geht es also neben dem Aufbau der techologischen Infrastruktur auch darum, sehr deutlich in politischen Debatten wie dem Elsevier-Boykott aufzutreten und unsere Kompetenz deutlich zu machen. Bezeichnenderweise aber ist es mit Björn Brembs ein Wissenschaftler, der diese Kompetenzen am schärfsten herausarbeitet und wissenschaftliche Bibliotheken als geradezu ‘natürliche’ Träger eines zukünftigen freien und verlagslosen Publikationssystems sieht.
Conclusio
Die Revisionisten der Open Access Bewegung haben unbestritten viel erreicht. Das ist großartig und anerkennenswert. Aber: kein Grund für politischen Stillstand. Wenn der historische Moment gekommen ist, an dem die WissenschaftlerInnen selbst massenhaft gegen ein erstarrtes, überholtes und rein am Profit orientiertes System aktiv werden, muss für die Bibliotheken und allen in ihnen Arbeitenden eindeutig klar sein, auf wessen Seite sie in diesem Konflikt stehen. Und dieser Konflikt muss als solcher benannt, forciert und durchgestanden werden. Mit Kuscheln, Zögern und Nischenmentalität verpassen wir die historische Situation. Da kann uns die Geschichte der SPD durchaus mal eine Lehre sein.