Unix ist ein Betriebssystem, oder besser: Eine Art Familienname für eine ganze Reihe von Betriebssystemen[1] mit einem gemeinsamen Urahnen. Mehr erstmal nicht. Und dennoch geht von Unix sowohl für viele seiner NutzerInnen wie auch für Außenstehende, Windows-NutzerInnen und andere Ahnungslose eine ungeheure Faszination aus. Die Gründe dafür mögen unterschiedliche sein. Eine der wesentlichen Ursachen meiner eigenen Faszination und Begeisterung für Unix ist seine Textbasiertheit. Unix ist Text. Deswegen ist Textarbeit, Textfaszination am besten bei Unix aufgehoben: Text ist Unix. Bis ich das begriffen hatte, verging allerdings auch etwas Zeit. Zeit vor Texten in DOS- und Windowsprogrammen.
Computer und Textarbeit - persönliche Erfahrungen
Meine Erfahrungen mit Text und Computern begannen - fast möchte man sagen: natürlich - nicht mit Unix. Sondern ca. 1988 auf einem damals ziemlich fortschrittlichen 8086 Notebook eines Freundes und Mitbewohners. Der schrieb damit seine Artikel als Journalist. Das Teil hatte noch nicht mal eine Festplatte, wog aber trotzdem mehr als heute ein Fernseher und hatte einen grünen LCD-Monitor. Kurz: ein völlig cooles Gerät, das mein Verhältnis zum Texteschreiben komplett veränderte und weiter brachte.[2]
Bis dahin schrieb ich mit einer - immerhin bereits elektrischen - Schreibmaschine. Mich faszinierte das Tippen, das Setzen von Buchstaben, Absätzen und Schriftbildern. Das fing bereits an mit einem Aufsatz in der vierten Klasse (es ging um einen verrückt gewordenen Professor, der Menschen in riesige Insekten verwandelte, mit denen er die Weltherrschaft erringen wollte…), den ich drei Tage lang auf der Schreibmaschine meiner Mutter in die Tasten gab. Später Artikel für die Schülerzeitung, Schularbeiten, und auch noch einige Hausarbeiten in der Uni. Immer war ein großes Moment der Motivation für diese Texte das Tippen, die Interaktion mit der (hier noch: Schreib-)Maschine, die dem Text Form, Materie und Konkretheit gab. Und das alles konnte der Computer natürlich noch viel besser. Die Faszination potenzierte sich.
Man konnte nun löschen, formatieren, speichern, kopieren, ausschneiden… Und das Beste: nicht nur Textinhalte formten sich sich durchs Tippen, auch die Manipulation des Textes, ja sogar die Maschine selbst wurden ausschließlich durch Tasten gesteuert. Auf dem Rechner lief ein DOS (war es die Version 3?) und als Textverarbeitung eine frühe Version von MS Word für DOS. Man musste die ESC-Taste drücken, um Befehle einzugeben oder Text zu formatieren. Faszinierend daran war wohl vor allem, dass zunächst mal der Endzustand des Textes kaum zu sehen war, auch wenn schon gewisse Formatierungen wie fett, kursiv, Absätze etc. angezeigt werden konnten. Man musste erstmal drucken, um das Endresultat zu Gesicht zu bekommen. Und das war bei den damaligen Nadeldruckern wahrlich kein Vergnügen. Also ließ man das tunlichst bleiben, machte seine wenigen Formatierungen mit Esc und schrieb ansonsten einfach. Das waren schöne Zeiten. Heute glaube ich, dass mir das Schreiben meiner Examensarbeit Anfang der 1990er nur deshalb so viel Spaß gemacht hat, weil ich sie in meinen neuen 286er mit Word5 tippen konnte.
Von Linux, FreeBSD oder anderen Unix-Derivaten für den PC war damals natürlich noch keine Rede. Jedenfalls wusste ich nichts davon. Meine Erstberührung mit Unix geschah an der Uni mit AIX, ca. 1993/94, als das Internet eine grafische Oberfläche bekam und begann, populär zu werden. Trotz WWW und Netscape waren die klassischen Unix Internetanwendungen eigentlich spannender. Ich konnte via Terminal in der Uni doch tatsächlich mit meiner damals in Australien weilenden Freundin talken und mailen. Und zwar durch pures Tippen. Das war der andere Teil der Unixinfektion, der hier aber nicht so interessiert: die Netzwerkfähigkeiten. Auf dem Desktop geschah dann leider etwas, was später mühselige Entwöhnung kostete: Die GUI eroberte meinen Rechner. Das alleine wäre nicht schlimm gewesen, schlimm war, dass es mit Windows 3.1 begann und - mit einem kurzen Abstecher zu OS/2 - erst mit einem frühen WindowsXP endete. Plötzlich gab es - fürs Texte schreiben - Winword. Das ließ sich zwar auch immer noch leidlich per Tastatur bedienen, aber die Maus verlangte immer öfter, in die Hand genommen zu werden. Und Winword erhob den Anspruch, WYSIWYG zu bieten. Was sich später natürlich als glatt gelogen herausstellte. Aber nach der ersten Faszination angesichts dieses Versprechens war’s dann auch schon zu spät. Alle benutzten Word, also auch ich, für Aufsätze, Doktorarbeit etc.pp.
Ganz langsam aber begann dadurch die Faszination am reinen Schreiben, am „Tipperlebnis“ zu schwinden. Die Textansicht inkl. der tausenden von Schriften und Formatierungsmöglichkeiten lenkte von Text und Inhalt doch eher ab. Abstürze, diverse Eigenwilligkeiten und ständig veränderte Binärformate kamen hinzu. Das ließ sich alles irgendwie bewältigen, aber es nervte. Ich versuchte mir mein Leben dadurch schöner, simpler und ‘textlicher’ zu machen, dass ich nur noch in der sogenannten ‘Konzeptansicht’ mit Courier als Schrift arbeitete. Manchmal sehnte ich mich nach den alten DOS-Tagen und überlegte schon ernsthaft, ob ich nicht ein altes Notebook nehmen und damit wieder in DOS und Word5 meine Texte schreiben sollte. Das war aber natürlich Unsinn (zumindest was den Teil mit DOS und Word5 betraf). Das Umdenken und die Rettung kamen mit Unix.[3]
Unix ist Text
Nach einigen unbefriedigenden Versuchen mit Linux (Suse und Redhat) entdeckte ich ca. 1997 FreeBSD.[4] Ich fand das System extrem faszinierend, logisch, konsistent, puristisch und doch sexy. Meinen Desktop eroberte es zunächst noch nicht, aber nach einer kurzen und frustrierenden Zeit mit einem WindowsNT-Webserver machte ich FreeBSD zu meinem Serversystem (was es bis heute geblieben ist). Die Lernkurve war natürlich enorm hoch, aber das machte es nur noch reizvoller (auch das gilt bis heute). Das Neue und Faszinierende (und das, worum es hier geht) war: Alles Text! Konfigurationen wurden via Textdateien in /etc/, $HOME oder sonstwo geschrieben. Ich schrieb in einer Textdatei, um den Kernel anzupassen. Ich schrieb in httpd.conf, um den Apache zu konfigurieren. Ich schrieb nicht nur mit meinem Computer, ich schrieb mir gewissermaßen den Computer und seine Dienste selbst. Text wurde zu einem universellen Interface. Mit dem Schreiben von Text konnte nun auch die fremde neue Welt namens Unix erprobt und gestaltet werden. Diese Bedeutung von Text in Unix-Systemen hat nicht nur historische Gründe, sondern ist Teil der Philosophie:
“Text streams are a valuable universal format because they’re easy for human beings to read, write, and edit without specialized tools. These formats are (or can be designed to be) transparent.”[5]
Es war eigentlich sehr naheliegend, dass für mich ‘Textmenschen’ so etwas faszinierend und eben auch vertraut ist. Tatsächlich sind die Parallelen zwischen dem Schreiben von Befehlen, Programmen und Konfigurationen in Unix und dem Schreiben von wissenschaftlichen oder literarischen Texten eklatant, wie Thomas Scoville in seinem sehr anregenden Artikel The Elements Of Style: Unix as Literature schön beschreibt:
“Working on the command line, hands poised over the keys uninterrupted by frequent reaches for the mouse, is a posture familiar to wordsmiths (especially the really old guys who once worked on teletypes or electric typewriters). It makes some of the same demands as writing an essay. Both require composition skills. Both demand a thorough knowledge of grammar and syntax. Both reward mastery with powerful, compact expression.”
Nun bleibt es natürlich nicht bei der Philosophie. Unix ist - zumindest was die Möglichkeiten zum Verfassen, Manipulieren, Transformieren und zum generellen Verwenden von Text angeht - sicher das mächtigste Betriebssystem überhaupt. Es bietet nicht nur jede Menge kleine Tools zur Textmanipulation, sondern natürlich auch ‘Textverarbeitungsprogramme’. Nein, hier ist jetzt nicht so etwas wie Word oder auch der (für gewisse Zwecke) durchaus empfehlenswerte Openoffice Writer gemeint. Sondern die fürs Unix-Leben unentbehrlichen Texteditoren.
Der Editor als universelles Werkzeug
In einem textorientiertem Betriebssystem - wenn man es ernsthaft nutzen will - ist der Texteditor das wichtigste Werkzeug. Das ist trivial. Dementsprechend muss es aber auch das Werkzeug sein, dass man am besten kennt, mit dem man quasi in einer Linie von Fingern, Tastatur, Rechner, Bildschirm und Text interagiert, seine Texte und seine digitale Welt gestaltet. Ein solches Werkzeug will gut ausgewählt und gelernt werden. Das ist nicht trivial. In der Unix-Welt gibt es kaum ein Thema, das so leidenschaftlich diskutiert wird wie die Wahl des richtigen Editors. Hauptkontrahenten sind Vi/Vim und Emacs. Beide sind auf allen Unix-Systemen verfügbar, recht komplex sowie nur mit reichlich Mühe lern- und beherrschbar. Diese Mühe lohnt sich jedoch. Einmal auch nur ansatzweise gelernt, erleichtern einem diese Universal-Werkzeuge das Leben ungemein und sind extrem mächtig. Daneben gibt es Triaden andere Editoren, die für spezielle Einsatzzwecke oder auch für AnfängerInnen durchaus ihre Daseinsberechtigung haben. In meiner ersten Unixzeit hab ich auch gerne noch joe, pico (oder nano) oder sogar ee sowie nedit benutzt. Das sind aber nur kleine, begrenzte Tools. Sie verhindern eher das Faszinosum ‘Text in Unix’.
Wenn dann der Lieblingseditor gefunden ist – in meinem Fall ist das Vim –, dann steht dem Texterlebnis Unix nichts mehr im Wege. Tippend wird das System beherrscht und erforscht. Der Editor ist das universelle Werkzeug, mit dem sich sowohl jede Art von Text (Briefe, Aufsätze, Bücher, email sowieso) wie auch die Konfiguration, das Betriebssytem und seiner Anwendungen schreiben lässt. Tippend wird die Welt gestaltet. Der Editor ist das Tor zu allem.
Text und WYSIWYG
Aber nicht nur diese Allmächtigkeit macht den Texteditor bzw. Text in Unix zum Faszinosum. Aus der Perspektive des Autors ist es auch - ich möchte es mal so nennen - die Nacktheit des Textes. Keine Formatierungen. Keine bunten Hintergründe, keine Menüs mit Schriftauswahl, keine Icons. Man schreibt den Text und - zunächst mal - sonst gar nichts. Der Rest ist nicht Formatierung, sondern höchstens Markup in XML oder Latex oder vielleicht noch etwas Syntax-Highlighting. Ich beschreibe Struktur und Layout des Textes. Genauso, wie ich den Inhalt schreibe. Alles wird durch Text selbst, die Zeichen auf dem Monitor, gestaltet. Das ist etwas gänzlich anderes als das übliche WYSIWYG-Paradigma. Über den Unsinn des WYSIWYG-Ansatzes beim professionellen bzw. wissenschaftlichen Textschreiben hab ich mich schon in Schreibt strukturiert! XML und Docbook in Sozial- und Geisteswissenschaften ausgelassen. Hier interessiert eher die emotionale und kognitive Beziehung zum Text an sich. Wenn ich den Text schreibe, interessiert mich nicht sein (späteres) Aussehen zur Veröffentlichung. Ich tippe einfach nur. Was ich bedenke, sind Struktur und Bedeutung, nicht Schriftgrößen und Zeilenabstände. Das erledigen entweder später großartige Tools für mich oder vielleicht sogar ein Verlag. Ein bisschen ist es so, wie zu DOS-Word- und sogar Schreibmaschinenzeiten. Konzentration auf das Wesentliche. Klare Trennung von Inhalt, Layout und Struktur. Das ist UNIX-Philosophie.
WYSIWYG verstellt den Blick auf den Text, den Zugang zu den Inhalten, zum Wesen des Textes. WYSIWYG bzw. überhaupt aufgeblähte GUIs in Textverarbeitungen geben immer Wege oder Perspektiven zur Erfassung, zum Verständnis, selbst zum Schreiben vor. Die AutorIn kann gar nicht anders, als den Vorannahmen des Programms zu folgen, die Formatierung mitzudenken. Textverarbeitungen beschränken damit, wenn man so will, die Freiheit des Autors und des Textes.
UNIX für Textarbeiter
Unix und Text sind also Geschwister. Beide stammen aus der “Kultur des Wortes”. Textarbeit sollte ebenso wie UNIX sich dieser Wurzeln auch in einer zunehmend von Bildsprache beherrschten Welt bewusst sein.[6] Für Textarbeiter, Wissenschaftler, Menschen, die Sprache lieben und beherrschen, ist UNIX eigentlich das Betriebssystem, das Ihren Fähigkeiten, ihrer Textaffinität und -professionalität entspricht.
Freilich, der Umstieg ist nicht so leicht. Linux-Systeme wie Ubuntu können zwar heute leicht jeden Windows-Desktop ersetzen, und das ist der erste Schritt. Aber auch diese Systeme lassen sich heutzutage relativ problemlos ausschließlich per Maus und GUI steuern. Selbiges gilt für die Textverarbeitung (z.B. mit Openoffice). Damit entfallen die Vorteile im Sinne des „Unix Way of Text“. Schwieriger ist also das notwendige Umdenken und Umstellen, von der zwar bequemeren, aber bevormundenden GUI- und WYSIWYG-Perspektive zur Textperspektive. Das aber lohnt sich. Man sollte als weitere Ermutigung zur Befreiung den Artikel des Journalisten Stephan Maus lesen (Mit Open Source Software gegen die digitale Unmündigkeit (SZ, 12.04.05). Maus beschreibt seinen Umstieg von Windows zum Purismus von NetBSD auf einem ziemlich alten Laptop. Danach weiß man: Der Perspektivenwechsel bringt Spaß, enormen Erkenntnisgewinn und vor allem Freiheit. Das alles ist ohne Frage mit Mühe verbunden. Aber, um zum Schluss noch mal Thomas Scoville zu zitieren, so ist das nun mal mit der Freiheit und Unabhängigkeit: Sie hat ihren Preis.
“Mastery of UNIX, like mastery of language, offers real freedom. The price of freedom is always dear, but there’s no substitute. Personally, I’d rather pay for my freedom than live in a bitmapped, pop-up-happy dungeon like NT[7]. I’m hoping that as IT folks become more seasoned and less impressed by superficial convenience at the expense of real freedom, they will yearn for the kind of freedom and responsibility UNIX allows. When they do, UNIX will be there to fill the need.”
Scoville bezieht das auf IT-Profis. Nichts, aber auch gar nichts, spricht allerdings dagegen, sich auch als Textprofi, als Wissenschaftler oder sonstiger Schreiber mit Verankerung in der „Kultur des Wortes“ angesprochen zu fühlen.
Anmerkungen
[1] Wie z.B. die freien Systeme GNU/Linux, FreeBSD, OpenBSD, NetBSD oder diverse (halb-)kommerzielle Varianten wie Solaris, AIX, HP-UX; und sogar MacOS X gehört irgendwie dazu.
[2] Nebenbei gesagt veränderte es auch mein Verhältnis zum Spielen (Larry!; übrigens auch ein Spiel, wo man viel tippen musste), aber das ist ein anderes Thema.
[3] Und mit dem Schreiben von HTML, XML, CSS, wo ich mich auch schnell (schneller als bei ‘normalen’ Texten) von WYSIWYG, grafischem Schnickschnack und endlosem Mausgeklicke verabschiedete.
[4] Es war ein großer Artikel in der c’t, der mich damals drauf brachte: Andreas Klemm, Lars Köller: If you’re going to San Francisco. Die freien BSD-Varianten von Unix, c’t 4/97, S. 368. Danke noch mal an die Autoren.
[5] Eric S. Raymond: The Art of UNIX Programming, Boston 2004, S. 107;http://www.faqs.org/docs/artu/ch05s01.html. Ein sehr empfehlenswertes Buch!
[6] „in a world increasingly dominated by image culture (TV, movies, .jpg files), UNIX remains rooted in the culture of the word.“ (Thomas Scoville, Unix as Literature)
[7] Der Artikel von Scoville wurde ca. 1999 geschrieben. Damals war Windows NT aktuell. An der Aussage ändert die Windowsversion nichts.